Überraschung für Lea
Hörtrainings Geschichte | Dauer: 07:16
Überraschung für Lea
Überraschungen mag Lea schon immer. Am liebsten an Geburtstagen. Wenn sie plötzlich ganz viele Geschenke bekommt und sie ihre Freunde einladen darf. Das Kerzenausblasen vom Geburtstagskuchen - im Idealfall hat der Himbeer-Schokoladen-Geschmack - ist aber ihr allerliebster Lieblingsmoment an Geburtstagen. Denn da darf sie sich etwas wünschen und muss dann darauf warten, dass es auch wahr wird. Wenn es dann wahr wird, ist es eigentlich gleich noch eine Überraschung, denn sie weiß ja nie, wann sich ihr Wunsch genau erfüllt.
Lea liebt also Überraschungen. Die größte Überraschung, die sie je bekommen hat, ist noch gar nicht so lange her. Mama und Papa setzten sich mit ihr auf der grauen Couch im Wohnzimmer zusammen und schauten sie mit großen Augen an. Mama konnte sich ihr Lächeln nicht verkneifen, Lea wusste gleich, dass das etwas Gutes bedeuten muss. „Lea, du bekommst ein Geschwisterchen!“, riefen sie plötzlich gemeinsam heraus. Lea weiß noch, dass sie gar nicht wusste, was sie davon halten soll. Nicht mehr das einzige Kind sein? Mama und Papa teilen müssen? Sie hätte sich eher eine neue Blockflöte oder ein neues Malbuch gewünscht. So war es eben ein Geschwisterchen.
Das ist jetzt sechs Monate her und mittlerweile kann Lea es kaum noch erwarten, kein Einzelkind mehr zu sein. Das Kinderzimmer ist schon fertig eingerichtet: Kuschelige Decken, winzige Söckchen, eine Wiege mitten im Raum. Auch Mama wirkt, als wünschte sie sich, dass es bald soweit ist. Sie ist kugelrund und klagt oft über Rückenschmerzen oder geschwollene Füße. Lea freut sich besonders, seit sie weiß, dass sie eine kleine Schwester bekommen wird. „Das ist wie eine beste Freundin, nur für mich“, denkt sie sich. Von ihr aus könnte das Spielen gleich losgehen.
Lea wird mitten in der Nacht aufgeweckt. Noch mit ihrem Stoffhasen in der Hand, wird sie von Papa aus dem Bett gehoben und durch die Wohnung getragen. Ehe sie es sich versieht, sitzt sie auch schon hinten im Auto. Papa fährt und Mama sitzt am Beifahrersitz. Sie sieht konzentriert aus und atmet laut. „Bald wirst du deine Schwester kennenlernen“, sagt sie und dreht sich zu Lea um. Sie legt ihre Hand auf ihren Fuß und lächelt. Lea lächelt zurück. Endlich geht es los.
Mama und Papa schauen gar nicht so glücklich aus, wie sie sollten. Sie schauen viel mehr besorgt und verwirrt drein, während sie mit der Ärztin sprechen. Papa hält Ina, Leas neue Schwester, fest im Arm. Sie schläft seelenruhig. Lea sitzt auf einem unbequemen Krankenhaussessel neben Mamas Bett und versteht kein Wort. „Was ist los?“, fragt sie nach. Sie mag die Stimmung im Raum nicht. Alle wirken angespannt. Die Ärztin schaut Lea freundlich an: „Deine Schwester hat wohl Probleme dabei, richtig zu hören. Wir müssen uns das noch etwas genauer ansehen, aber wie es ausschaut, ist sie taub.“ Taub. Lea überlegt. Sie kann also nicht gut hören. Lea überlegt weiter. Wie sollen sie dann gemeinsam spielen? Ina wird nichts verstehen, was Lea ihr sagen will. Mit Handzeichen vielleicht. Aber Lea wollte ihrer Schwester doch so gerne Lieder auf der Blockflöte vorspielen. Die Ärztin redet weiter mit Mama und Papa. Lea sitzt still daneben.
Wenn man Ina so beim Wachsen zusieht, merkt man eigentlich gar nicht, dass ihr etwas fehlt. Sie ist auch noch sehr klein. Lea redet gerne mit ihr, auch wenn sie weiß, dass Ina sie nicht hören kann. Sie malt ihr auch Bilder, damit ihre kleine Schwester schöne Dinge hat, die sie anschauen kann. Manchmal ist sie aber schon traurig, wenn sie daran denkt, dass Ina die wunderbaren Klänge um sie herum nicht hören kann. Aber Mama und Papa haben einen Plan. „Wir werden Ina helfen. Sie wird Geräte bekommen, mit denen sie hören kann. Dafür muss sie aber operiert werden“, sagen sie. Seitdem Lea das weiß, ist sie nicht mehr traurig. Im Gegenteil, sie ist schon gespannt auf das neue Gerät und darauf, wie Ina reagieren wird, wenn sie zum ersten Mal hören kann.
Heute bekommt Ina ihre Geräte, die ihr beim Hören helfen. Die Operation hat sie gut überstanden und jetzt warten Lea und ihre Eltern ungeduldig darauf, das Ergebnis zu sehen. Sie sitzen zu viert in einem hellen Arztzimmer und warten. Die Ärztin kommt herein, in der Hand hält sie eine rote Box. Da müssen wohl die Horchis drinnen sein, so nennt Lea die Geräte. Die Ärztin erklärt Mama und Papa noch einige Dinge, Lea hört gar nicht hin. Sie schaut auf Ina, die mit großen Augen den Raum erkundet. Dann geht es los. Die Ärztin nimmt ein J-förmiges Gerät mit einem dünnen Kabel, das mit einer kleinen runden Platte verbunden ist und legt es an Inas seitlichen Kopf, hinter ihr Ohr. Dann tippt sie etwas in ihren Computer ein. Alle schauen gespannt auf das Baby. Ina öffnet den Mund. Lea kann sehen, dass sie überrascht ist. Mama redet sanft mit ihr. „Hallo, mein Schatz“, sagt sie mit Tränen in den Augen. Plötzlich beginnt Ina zu lachen. Lea schaut ihren Papa an, er macht ein Gesicht, als könnte er es gar nicht glauben. Ina lacht noch immer. Also beginnt auch Lea zu lachen. Und Mama. Und Papa. Und schließlich die Ärztin. Lea schaut ihre kleine Schwester an, als ihr auffällt: Sie lieben wohl beide Überraschungen.