Pioniere des Hörens
Hörtrainings Geschichte | Dauer: 06:19
Pioniere des Hörens
Sonntagnachmittag. Heute findet ein ganz besonderes Treffen statt: Fünf Familien sehen einander wieder, um sich auszutauschen, zu vernetzen, aber vor allem, um über alte Zeiten zu sprechen. Diese Familien kennen sich seit über 25 Jahren und sie teilen eine Geschichte: Jede von ihnen hat mindestens ein Kind, das mit Cochlea Implantaten versorgt ist. Das Besondere: als diese Familien sich kennenlernten, als sie sich für die Implantation ihrer Kinder entschieden, waren sie die ersten. Sie waren Pioniere des Hörens.
Der Raum ist klein und die Tische stehen in den Ecken. Deshalb beschließen sie, die Möbel zu einem großen Tisch zusammenzuschieben, an dem alle Platz haben. Jeder packt an und nach wenigen Sekunden sitzen alle auf ihren Stühlen. Einige lachen, einige unterhalten sich laut, einige schauen sich erst einmal um. Es herrscht eine vertraute Atmosphäre. Jeder kennt jeden, niemand ist zurückhaltend oder weiß nicht recht, was er sagen soll. Alle sind entspannt, unter Freunden. Auch die Kinder unterhalten sich, obwohl sie sich teilweise schon länger nicht mehr gesehen haben. Alle wollen wissen, wie es den anderen ergangen ist. Die meisten rücken von Platz zu Platz, um die Gelegenheit zu haben, mit jeder Person zu sprechen. Und jeder scheint sich wirklich zu interessieren, alle kümmern sich umeinander.
Jede dieser Familien hat ein anderes Schicksal erlebt, doch gleichzeitig sind ihre Geschichten eng miteinander verbunden. Sie trafen sich erstmals in einem Kindergarten, der auch Frühförderung für hörbeeinträchtigte Kinder anbot. Dort fanden sie nicht nur Informationen für ihren Nachwuchs, sondern auch Unterstützung und eine Umgebung, in der offen geredet werden konnte. Manche Dinge kann man mit niemandem sonst besprechen. Manche Erfahrungen sind so eigen, so spezifisch, dass es scheint, als gäbe es niemanden auf der Welt, der versteht. Die Frühfördergruppe bot einen Raum, in dem diese Grenzen aufgehoben wurden. In dem jeder verstand. Sie tauschten sich aus, halfen einander, spendeten Trost in schwierigen Zeiten. Auch, wenn es darum ging, ihre Kinder implantieren zu lassen.
Das erste Kind, das mit einem CI versorgt wurde, war Marie. Nach einer Gehirnhautentzündung im Alter von 18 Monaten ertaubte sie, ihre Sprachkenntnisse entwickelten sich zurück. Sie bekam Wutanfälle, weil sie nicht verstand und nicht verstanden wurde. Damals wusste die Familie nicht, was sie tun konnte, um ihrer Tochter bestmöglich zu helfen. Maries Eltern hatten Angst vor der Implantation, Angst vor einer Operation, die womöglich doch nicht helfen würde. Trotzdem, sie entschieden sich dafür, den Schritt zu wagen und Marie das Hören wieder zu ermöglichen.
Auch für die Eltern von Fabian war der Schritt in Richtung Implantation nicht einfach. Ihr heute 30-jähriger Sohn wurde nicht nur taub geboren, sondern leidet überdies an einer Mehrfachbeeinträchtigung. Genau deswegen wurde den beiden auch von einer Implantation für Fabian abgeraten. Die Befürchtung war, dass Fabian keine Veränderung bemerken würde, die Operation ein unnötiges Risiko wäre. „Wäre es mein Kind, würde ich es probieren.“ Die Worte des HNO-Spezialisten entschieden, dass sie es wagen würden und der damals Vierjährige wurde implantiert. Damit veränderte sich Fabians Welt für immer. Die Implantation ermöglichte es gleichsam einem Haus, bei dem vermeintlich alle Fenster geschlossen waren, eine Tür zu öffnen.
Auch Caro musste mit Problemen neben ihrer Gehörlosigkeit kämpfen. Bei ihr wurde die seltene Erkrankung Osteopetrose festgestellt, bei der sich das Knochengewebe zunehmend verdickt. Als Caro sechs Wochen alt war, merkten ihre Eltern, dass sie nicht hören konnte. Erst ein halbes Jahr nach ihrer Implantation begann Caro zu kommunizieren und im Laufe der Zeit entwickelte sie sich zu einem Sprachentalent: Sie las gerne, studierte Germanistik, liebte Worte. Jedoch ging es Caro zunehmend schlechter, sie hatte Gleichgewichtsstörungen und starke Kopfschmerzen, die sie belasteten. Schließlich verstarb Caro vor ein paar Jahren an den Folgen ihrer Krankheit.
Dass das Alter bei der Implantation einen großen Einfluss auf die Sprachentwicklung hat, beweisen vor allem Markus und Laura. Insbesondere bei Markus fällt kaum auf, dass er mit Implantaten versorgt ist. Im Gegensatz zu seiner Schwester wurde er bereits mit zwei Jahren implantiert, Laura war schon sechseinhalb Jahre alt. Dieser Altersunterschied bei der Implantation hatte starke Auswirkungen auf die Entwicklung der beiden und ist heute noch spürbar. Nach medizinischen Problemen ist Laura nur noch auf einem Ohr implantiert. Ihre kleine Schwester Anja ist normalhörend. Für die Neunjährige sind ihre beiden implantierten Geschwister das Normalste auf der Welt.
Auch die Brüder Stefan und Noah sind beide taub geboren worden. Während bei Noah klar war, dass er schon mit neun Monaten implantiert werden würde, fiel die Entscheidung davor bei dem älteren Stefan schwerer. Die Ungewissheit und fehlende Vorbilder verunsicherten seine Eltern. Ein Treffen mit einem implantierten Kind gab ihnen schließlich den Mut, Stefan implantieren zu lassen. Heute leben Stefan und Noah mit ihren CIs uneingeschränkt ein vollkommen normales Leben. Ein einziger Moment, der die Angst nahm, ermöglichte es ihnen.
Mittlerweile sind die Zeiten der Frühfördergruppe vorbei, die Kinder sind bereits erwachsen. Trotzdem nehmen sich alle gerne die Zeit, einander wieder einmal zu sehen. Die Verbundenheit, die sich vor über einem Vierteljahrhundert gebildet hat, besteht nach wie vor.