Gottes Bäume
Folke Tegetthoff | Dauer: 05:54
Gottes Bäume
In seinem Himmelslabor saß Gott und werkte unentwegt an seinem Lieblingsprojekt "Erde".
Das Wasser war schon erschaffen; Sonne, Mond ebenfalls. Grünzeug gab es und sogar ein paar Tiere stapften bereits durch die Gegend.
Neben den wirklich ernsthaften Dingen fand der liebe Gott immer noch Zeit für Spielchen, denen er eigentlich keine allzu große Bedeutung zumaß. Würde ich mich selbst dort unten sehen wollen, dachte er in seiner unermesslichen Bescheidenheit, was müsste ich dann erschaffen? Güte, Ehrlichkeit, Großmut, Liebe und noch vieles mehr fielen ihm dabei ein.
„Aber ich kann diese Dinge ja nicht einfach hinunterregnen lassen“, murmelte er vor sich hin, und da er in seiner Hand gerade bunte Kügelchen formte, hatte er eine Idee: Für jede seiner Eigenschaften schuf er eine Frucht und einen dazugehörigen Baum. So gab es also auf der Erde einen Baum der Güte, einen der Großmut und der Demut, einen Baum der Liebe und einen der Wahrheit - 0h ja, es gab bald sehr viele solcher Bäume, die Gott in seiner unermesslichen Bescheidenheit geschaffen hatte ...
Aber da gab es in seinem Himmelslabor von Anbeginn seiner Arbeit an das Prinzip, dass alles Geschaffene auch ein Gegenstück haben sollte. Verflixt, dachte sich der alte Herr, jetzt war ich aber ein bisschen voreilig und unüberlegt. Und es blieb ihm nichts anderes übrig, als auch einen Baum der Missgunst und des Neides, einen Baum des Hasses und der Lüge, einen Baum des Egoismus und einen der Niedertracht, einen Baum der ... „Himmel noch mal!“, schimpfte er, hört das denn gar nicht auf, bin ich auch wirklich so gut, dass ich auch so viel Schlechtes auf die Erde pflanzen muss?
Ziemlich verärgert wegen dieser dummen Fehler, die eben passieren, wenn man sich während ernsthafter Arbeit dem Spielen hingibt, schaute Gott auf seinen Plan, wo als Nächstes die Schöpfung eines "Menschen" auf der Liste stand. „Oh mein Gott, auch das noch“, jammerte er und machte sich an die Arbeit.
Seine Stimmung besserte sich jedoch rasch, denn das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen - richtig hübsch war er geworden, der Mensch. „Jetzt hör mal gut zu, du Mensch", sprach Gott sehr ernsthaft zu dem Winzling, „Dort, wo ich dich jetzt gleich hinsetze, gibt es viele Bäume mit Früchten. Mir ist da ein kleiner Fehler unterlaufen, deshalb musst du jetzt ganz genau aufpassen. Also, höre: Du darfst nur und ausschließlich von den Früchten mit den gelben Punkten und der Kugelform essen, ebenso von solchen mit roten Kugeln und Eierform. Auch von länglichen in Violett, Orange und Grün und von festen, die kleine Ausbuchtungen haben. Und dann noch von solchen, die ..." Die Liste umfasste 237 Früchte und endete mit einer kleinen schwarzen Frucht mit winzigen gelben Tupfen rund um den Stängel.
„Aber unter keinen Umständen, hör genau zu, darfst du jedoch von kleinen schwarzen Früchten mit winzigen orangefarbenen Punkten rund um den Stängel und von solchen mit roten Kugeln in Rundform kosten. Auch nicht von eiförmigen mit grünen Punkten und niemals von den Früchten mit ... " Und es folgten nochmals 237 Früchte, die alle die Eigenschaften in sich trugen, die Gott nur wegen dieses dämlichen Dualitätsprinzips hatte erschaffen müssen.
So war das arme Menschlein, schon bevor es auf die riesige Welt gesetzt wurde, heillos verwirrt. Und jeder kann sich vorstellen, wie es ihm erging, als es dann vor den 474 Bäumen stand! Als Gott sah, wie sein Mensch zwischen den guten und den schlechten Früchten umherirrte, verzweifelt, weil er nicht mehr die einen von den anderen unterscheiden konnte, blieb ihm nichts anderes übrig (vor allem um den bereits angerichteten Schaden in Grenzen zu halten), als die Weisung zu erteilen, in Gottes Namen von allen Früchten zu kosten.
Und er ermahnte den Menschen, um Himmels Willen darauf zu achten, welche Früchte süß und welche bitter schmecken, um von den süßen mehr und öfter und von den bitteren weniger und seltener zu essen. Aber Gott ahnte damals schon, dass das niemals funktionieren würde ...