Der Vogelkäfig

Der Schüler hatte viele Monate eifrig studiert. Nun wollte ihn sein Meister prüfen. Er führte ihn in einen Raum, in dem ein Käfig stand. Ein wunderschöner Vogel saß darin und starrte stumm vor sich hin.

„Höre meine Aufgabe: Der Vogel hat die Kunst des Singens verloren. Du brauchst dich nur an das zu erinnern, was ich dich lehrte. Dann wird es ein Leichtes für dich sein, ihn von seinem Unglück zu befreien. Nur eines ist dir verboten: die Tür des Käfigs zu öffnen!“ Und damit ließ er den Schüler allein.
Nun stand der Schüler vor dem Käfig und dachte sich: „Naja, vielleicht hat der Vogel alle seine Lieder vergessen! Also begann er, ihm alle Lieder vorzusingen, die er kannte. Aber der Vogel blieb stumm.
Vielleicht hat er Hunger und Durst? Und der Schüler ließ den Vogel von den köstlichsten Speisen und Getränken kosten. Aber der Vogel blieb stumm.

Dann versuchte er es noch mit allerlei Spielzeug gegen Langeweile, ließ einen kleinen Vogel singen, zur Erinnerung, und zuletzt erzählte er ihm die schönsten Geschichten von Bäumen, von Flüssen und dem Wind. Aber der Vogel blieb stumm.

Am nächsten Morgen kehrte der Meister zurück. „Meister, Euer Vogel muss eine seltsame Krankheit haben. Ich habe alles versucht, aber er war durch nichts zum Singen zu bringen.“
„Du hast nichts von meinen Lehren verstanden“, antwortete der Meister, ging zum Käfig, öffnete die Tür, der Vogel flog hinaus und verschwand mit lautem, glücklichem Gesang in der Freiheit.
„Aber Meister! Ihr hattet mir doch verboten, den Käfig zu öffnen!“
„Damit gab ich dir ja schon zu verstehen, dass dies die einzige Lösung des Problemes sei. Aber mein Verbot war stärker als deine Vernunft, und die Angst vor den Folgen, wenn du es brichst, stärker als dein Mitgefühl - du hast nichts verstanden, nichts verstanden ...“