Ein fürchterlicher Morgen
Hörtrainings Geschichte | Dauer: 5:04
Ein fürchterlicher Morgen
Manchmal gibt es diese Tage, die schon fürchterlich anfangen. Der Wecker läutet während einer Tiefschlafphase, beim Aufstehen ist es draußen noch dunkel, das Bett ist warm und bequem und eigentlich gibt es gerade nichts Schlimmeres als aufstehen zu müssen. So geht es heute auch Marie. Nur, dass ihr Wecker nicht läutet, sondern vibriert. Und das so heftig, dass sie ihn am liebsten nehmen und quer durch den Raum werfen würde, nur um noch ein paar Minuten mehr kostbaren Schlaf zu erhaschen. Stattdessen nimmt sie ihren Kopfpolster und zieht ihn über den Kopf. Alles wäre ihr gerade lieber als aufzustehen, der Tag kann nur schrecklich werden.
Doch es ist zu spät, jetzt ist sie schon wach. Der erste Handgriff geht, wie jeden Morgen, zum Nachttisch. Dort liegt eine kleine Box. Im Halbschlaf öffnet sie die Box, nimmt eines der zwei kleinen Geräte, die darin die Nacht verbracht haben, und legt es an ihr Ohr. Plötzlich wacht nicht nur die Welt um sie herum auf, auch Marie wird wacher. Kaum liegt auch das zweite Gerät an ihrem Ohr, beginnt sich ihre Umwelt zu formen. Marie setzt sich an die Kante ihres Bettes, schließt die Augen und lauscht. Die Uhr an der Wand tickt leise vor sich hin, der Nachbar von oben scheint einen morgendlichen Tanz einzulegen, denn Marie hört jeden seiner raschen Schritte über ihr. Vor ihrem Haus fährt der Bus gerade in die Haltestelle. Marie hört, wie Kinder aussteigen. Schon so früh am Morgen reden und lachen sie ununterbrochen. Das bringt auch Marie zum Lächeln. Jeden Morgen fängt Marie so an. Sie sitzt mit geschlossenen Augen an ihrer Bettkante und lauscht, nimmt jedes Geräusch und jeden Klang um sich herum auf. Erst dann kann der Tag wirklich losgehen.
Noch einmal kräftig durchatmen, dann Augen öffnen. Auf dem Weg zum Bad bindet sich Marie die langen blonden Haare zu einem lockeren Zopf, damit ihr keine Strähne beim Zähneputzen ins Gesicht fällt. Doch bevor sie sich ihrer Morgenroutine widmen kann, greift sie zu ihrem Handy. Es ist mit einem tragbaren Lautsprecher verbunden, der zwar klein aussieht, aber ganz schön laut werden kann. Er ist Maries alltäglicher Begleiter in ihrer Wohnung. Sie trägt ihn von Raum zu Raum, damit die Musik, die sie über ihn abspielt, immer bei ihr ist. Heute ist sie in der Stimmung für etwas Poppiges, Fröhliches, um wieder gut zu machen, wie früh sie der Wecker aus dem Bett geworfen hat. Also wählt sie ihre Lieblingsplaylist für Tage, an denen sie ein bisschen Aufmunterung und Motivation braucht und trägt den kleinen Lautsprecher mit ins Bad. Schon nach ein paar Takten des ersten Lieds geht es Marie besser. Sie spürt ein Kribbeln im Körper, schwingt ihre Hüften im Takt und bereits beim ersten Refrain singt sie lauthals mit.
Mit einer Hand scrollt sich Marie durch die neusten Nachrichten auf ihrem Handy, mit der anderen befüllt sie ihren Wasserkocher. Sie trinkt morgens immer Tee, Kaffee findet sie ekelhaft. Außerdem sammelt Marie schöne Häferl. Mittlerweile hat sie so viele, das kaum noch Platz in dem Küchenschrank über dem Spülbecken ist. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und greift durch die erste Reihe von Tassen. Teilweise sind sie schon aufeinandergestapelt, um Platz zu sparen. Es klirrt laut, als sie die Tassen zur Seite schiebt. Doch heute ist ein Tag, der eine besondere Tasse verlangt. Ah, gefunden! Es ist Maries Lieblingstasse: Grün-blau gestreift, sie hat sie als Kind selbst bemalt. Sie sieht die Tasse an. Irgendwie passt sie gut zu dem Lied, das gerade über den kleinen Lautsprecher ertönt. Sie lächelt. Plötzlich pfeift es. Laut. Der Wasserkocher ruft nach Marie. Sie reißt herum und nimmt ihn geschwind von der Herdplatte.
Nach dem Tee aus dem Lieblingshäferl muss Marie auch schon los. Auf dem Weg nach draußen wird der kleine Lautsprecher gegen Kopfhörer eingetauscht - ganz ohne Musik geht es nicht. Bevor sie die Tür hinter sich schließt, wirft sie noch einen Blick in die Wohnung, ob sie auch nichts vergessen hat. Da hört Marie auf einmal ihr Lieblingslied aus den Kopfhörern. Vielleicht war der Morgen ja doch nicht so fürchterlich.